Personalisierte ErnährungDigitale Ernährungsberatung – ein Resümee

Die Ernährungsberatung ist im Zeitalter der digitalen Kommunikation angekommen. Durch die Corona-Pandemie erreichte der Wandel im Beratungsgeschehen im vergangenen Jahr eine ungeahnte Dynamik.

Inhalt
Frau sitzt vor dem Laptop in einem Online Meeting.
nenetus/stock.adobe.com - Stockfoto. Posed by Models

Online-Beratung: Für viele bereits selbstverständlich, für andere gewöhnungsbedürftig oder sogar ungeeignet. (Symbolbild)

Vorstellung Vera Hille

Mein Name ist Vera Hille und ich arbeite seit 1998 in der direkten Kommunikation mit dem Kunden, davon die letzten 6 Jahre als selbstständige Ernährungsberaterin in eigener Praxis. Wie so viele von uns, hat mich der Lockdown im letzten Frühjahr dazu motiviert, immer mehr meiner Angebote zu digitalisieren. Heute berate ich meine Kunden in einer Mischung aus Online und Präsenz, nehme regelmäßig an Online-Fortbildungen, Online-Stammtischen oder Online-Workshops teil und biete selbst Online-Kurse und Online-Vorträge an. Meine neuesten Produkte sind zwei ZPP-zertifizierte, IKT-basierte Online-Selbstlernkurse zur Beikosteinführung und zur Progressiven Muskelentspannung nach Jacobson, die seit Januar als Web-Apps auf dem Markt sind.

Digitale Formate in der Ernährungsberatung

Personen in der Ernährungsberatung bieten in ihren Praxen klassischerweise eine Mischung aus mehreren Beratungsformaten an. Allerdings eignen sich nicht alle gleichermaßen gut für die Übertragung ins Online-Setting.

Einzelberatung

Die Einzelberatung zeichnet sich durch eine sehr intime Gesprächsatmosphäre aus. Die Themen reichen, je nach Ausbildung und Schwerpunkt des Beraters, von Informationsvermittlung über Coaching hin zu therapeutischen Interventionen wie Verhaltenstherapie, Hypnotherapie usw. Eine Einzelberatung lässt sich sehr einfach in ein Online-Setting übertragen. Über ClickDoc, Zoom und andere Anbieter steht eine Reihe von kostenpflichtigen oder kostenlosen Anbietern an Videodiensten zur Verfügung.

Im Idealfall entsteht eine Atmosphäre, in der Berater und Kunde vergessen, dass sie nur über einen Computer miteinander kommunizieren und nicht im gleichen Raum sitzen. Allerdings lässt sich die nötige intime Atmosphäre nicht mit jedem Klienten gleichermaßen gut in einem Online-Setting herstellen; dazu später mehr.

Vorträge und Weiterbildungen

Dieses Format lebt durch Wissensvermittlung und bedarf keiner oder nur wenig Interaktion. Es lässt sich sehr gut digitalisieren und als Streaming-Veranstaltung oder Aufzeichnung einer sehr großen Zahl an Kunden zur Verfügung stellen.

Gruppenkurse

Bei Gruppenkursen spielen üblicherweise gruppendynamische Prozesse eine mindestens ebenso große Rolle wie die Wissensvermittlung. Durch Tools wie digitale Pinnwände und digitale Whiteboards wird versucht, auch im Online-Setting Interaktionen in der Gruppe zu ermöglichen. Doch hier stößt das Online-Format recht schnell an seine Grenzen. Der informelle Austausch zwischen den Teilnehmenden wird stark reduziert, und so dauert es deutlich länger, eine wirklich funktionierende Gruppe zu formen. Gruppendynamische Prozesse, wie z. B. Gruppendruck, kommen nur sehr begrenzt zum Tragen. Hier gerät die Anonymität von Online-Angeboten eindeutig zum Nachteil.

Selbstlernkurse

Ein Format, das perfekt für die Digitalisierung geeignet ist, ist der sogenannte Selbstlernkurs. Die Inhalte werden bei einem Selbstlernkurs didaktisch im Vorfeld so aufbereitet, dass der Kunde sich die Inhalte eigenständig erarbeiten kann. Schon länger gibt es Selbstlernkurse in Form von Büchern, Ordnern und ähnlichen Materialien.

Merke

Interaktive Arbeitsblätter, spielerische Elemente, Videos und Audiodateien sorgen für Abwechslung und erhöhen den Lerneffekt.

Die Digitalisierung erlaubt uns, verstärkt spielerische und interaktive Elemente einzubauen. Videos und Audiodateien bieten Abwechslung und sprechen die verschiedenen Aufnahmekanäle des Kunden an. So verbessert der Umstieg auf digitale Medien die Anwenderfreundlichkeit sowie den Nutzen bzw. Lerneffekt für den Kunden deutlich. Sind Selbstlernprogramme in Papierform noch häufig am fehlenden Durchhaltevermögen der Kunden gescheitert, schaffen es die Online-Formate wie Apps und Web-Apps deutlich besser, die User zu fesseln und zum Weitermachen zu motivieren.

Welche Chancen bringt die „Digitalisierung“ für die Ernährungsberatung?

Die Ernährungsberatung entwickelt sich immer mehr zu einem hart umkämpften Markt. Größere Anbieter à la Oviva, Exklusivverträge der Krankenkassen und die Einführung der DiGAs, der digitalen Gesundheitsanwendungen via App, zeigen es: Wer in Zukunft mehr vom Kuchen abbekommen will als eine Nische, kommt nicht umhin, sich intensiv mit digitalen Konzepten auseinanderzusetzen.

Dabei bietet die Digitalisierung auch den kleinen, selbstständigen Ernährungsberatern eine ganze Reihe von Vorteilen:

  • Scale: Wohl der größte Vorteil der Online-Welt: Digitale Konzepte lassen sich leichter skalieren. Mit der eigenen, begrenzten Arbeitszeit lassen sich mehr Menschen erreichen und somit auch mehr Geld verdienen.
  • Eroberung neuer Kundengruppen und Märkte: Die Online-Beratung erlaubt uns, in neue Märkte vorzustoßen. Wir können überregional, deutschlandweit oder gar weltweit tätig werden. Die Barrieren für Kunden, die aus zeitlichen oder räumlichen Gründen unser Angebot bis dato nicht nutzen konnten, fallen weg.
  • Kostensenkung: Nach anfänglichen Investitionen in die eigene Fortbildung, digitale Materialien und Infrastruktur fallen weniger Fixkosten an. Es wird kein großer, voll ausgestatteter Beratungsraum mehr benötigt und Fahrt- und Materialkosten entfallen.
  • Flexibilität: Wir können unsere Leistung von überall aus anbieten – vorausgesetzt, es gibt eine Internetverbindung. Der Lebenspartner wird versetzt? Kein Problem: Der alte Kundenstamm kann auch vom neuen Wohnort aus betreut werden. Arbeiten in der Sonne? Kein Problem: Eine Internetverbindung gibt es auch in Urlaubsregionen.

Welche Chancen bringen digitale Angebote unseren Kunden?

Auch für unsere Kunden bringt der Einzug der Digitalisierung in die Beratung Vorteile. Auf einige möchte ich genauer eingehen:

  • Geringerer zeitlicher Aufwand: Die Fahrt zum Berater bzw. zum Kurs fällt weg. Nun reicht vielleicht auch die Mittagspause, um ein Angebot wahrzunehmen.
  • Geringere Kosten: Die oben beschriebenen Effekte der Skalierung und Kostensenkung erlauben es, über kurz oder lang Kostenreduktionen zumindest anteilig an die Kunden weiterzureichen. So profitieren nicht nur wir Anbieter, sondern auch unsere Kunden von der günstigeren Kostenstruktur von Online-Angeboten.
  • Maßgeschneiderte Angebote für jeden Kundentyp: Der Kunde hat die Wahl aus einem breiteren Spektrum an Angeboten. Ist er eher Autodidakt mit hoher Eigenmotivation oder hat sehr unstete Arbeitszeiten, profitiert er von der Zunahme an digitalen Selbstlern-Angeboten. Bevorzugt er die Interaktion in der Gruppe, hat aber Schwierigkeiten, ein Präsenzangebot wahrzunehmen, profitiert er von Online-Kursen im Streaming-Format. Die Online-Einzelberatung ist eine Lösung für Kunden, die individuelle, maßgeschneiderte Empfehlungen mit intensiver Unterstützung durch einen Coach suchen, aber in ihrer Mobilität eingeschränkt sind.
  • Leichterer Zugang: Einige Kundengruppen sind mit den klassischen Präsenzveranstaltungen schwer zu erreichen und profitieren besonders von Online-Angeboten. Eltern mit kleinen Kindern sparen sich Kosten und Organisation von Kinderbetreuung. Manager mit langen Arbeitstagen und Berufstätige mit unregelmäßigen Arbeitszeiten brauchen nicht wöchentlich zur immer gleichen Zeit einen festen Termin einzuplanen. Deutsche im Ausland bekommen Zugang zu deutschsprachiger Beratung usw.

Kritische Betrachtung

Einzelberatung

Die Beziehung wird intensiver, wenn man sich gegenübersitzt – oder zumindest das Gefühl hat, man würde sich wirklich gegenübersitzen. Je mehr man den Bildschirm zwischen sich vergessen und in die Beratung versinken kann, umso weniger relevant wird der Unterschied zwischen Präsenz und Online. Dazu gehört ein ungestörter Raum auch beim Kunden (keine Partner oder Kinder, die zwischendurch in die Beratungssituation platzen) sowie ein aufgeschlossener Charakter, der dem Online-Angebot eine Chance gibt und eine persönliche Beziehung auch online zulässt.

Auch wenn sich online viel erreichen lässt, ist der Zugang zu Themen jenseits der Informationsvermittlung bei einem Präsenzangebot leichter aufzubauen – man denke nur an Themen wie Scham, Trauer, Ängste, Ablehnung usw.

Sicherlich kennt jeder Berater unterschiedliche Kliententypen. Mit manchen fällt es selbst in Präsenzberatungen schwer, eine wirkliche Beziehung herzustellen. Online wird dies fast unmöglich. Feine Signale sind noch schwerer wahrzunehmen, und der Klient kann sich leichter entziehen.

Gruppenkurse

Online-Streamingkurse haben in meinen Augen keine großen Chancen auf langfristigen und großflächigen Erfolg. Sie werden zukünftig eher ein Nischenangebot für eine eng definierte Zielgruppe sein.

  • Als Medium zur Informationsvermittlung werden sich anstelle der Streaming-Angebote Selbstlernkurse durchsetzen, da sie sich besser skalieren lassen. Neben räumlicher Flexibilität bietet ein Selbstlern-Angebot zusätzlich eine freie Zeiteinteilung – ein enormer Pluspunkt.
  • Wer auf einen Gruppeneffekt für effektiven Lernerfolg angewiesen ist, wird zukünftig wieder Präsenzangebote bevorzugen. Dort erfährt er die Gruppendynamik viel intensiver. Disziplin und Eigenmotivation werden besser unterstützt.
  • Nur wer unbedingt in einer Gruppe lernen will, aber Schwierigkeiten hat, an einer Präsenzveranstaltung teilzunehmen, wird auch in Zukunft Online-Streamingkurse wählen.

Solange Präsenzveranstaltungen nicht möglich sind, schließen Online-Streamingkurse dennoch die wichtige Lücke in der Gesundheitsversorgung der Bevölkerung, die der Ausfall der Präsenzkurse hinterlassen hat.

Selbstlernkurse

Online-Selbstlernkurse sind hingegen eine ideale Ergänzung zu Gruppenkursen im Präsenzformat. Sie haben ihre feste Zielgruppe, sind perfekt skalierbar und werden ihren Platz auf Dauer behaupten.

Merke

Online-Selbstlernkurse sind ein Markt, den wir Ernährungsberater uns schnell erschließen sollten, bevor uns andere zuvorkommen!

Selbstlern-Angebote lassen sich auch mit geringen finanziellen Möglichkeiten realisieren. Allerdings erfordert die erfolgreiche Gestaltung und Vermarktung eine Einarbeitung in uns fremde Themenbereiche. Ohne ein ansprechendes Design, hochwertige technische Lösungen und effektives Internet-Marketing wird man sich am Markt nicht behaupten können. Das ist entweder sehr zeitintensiv oder, bei Outsourcing, sehr teuer.

Der Faktor Mensch

Nicht vergessen sollten wir in der ganzen Diskussion uns Beratende selbst. Viele von uns haben sich den Beruf des Ernährungsberaters ausgesucht, weil wir gerne in persönliche Interaktion mit anderen treten. Nach einem kompletten Tag von Online-Beratungen fühle ich mich weniger erfüllt als nach einem Tag, an dem mir Kunden leibhaftig gegenübersaßen. Die „Chemie“ kann wohl doch nicht durch den Computer übertragen werden. Das erlebe ich auch bei meinen Kunden. Selbst in Pandemiezeiten kamen viele Klienten, sofern möglich, lieber persönlich in die Praxis und freuten sich, einmal wieder einem Menschen ohne zwischengeschaltete Maschine gegenüberzusitzen.

Tipps für den Sprung in die digitale Welt

  • Mit einem Partner läuft vieles besser. So habe ich den Online-Beikostkurs mit meiner Kollegin Patricia Schark von der Pädagogischen Praxisgemeinschaft in Wiesbaden gemeinsam erarbeitet.
  • Automation erleichtert einem die Arbeit. Als Beispiel sei hier die Möglichkeit erwähnt, mit einem Dienst wie Elopage digital Tickets zu verkaufen: Nach Zahlungseingang erhalten die Kunden automatisiert die Zugangsdaten zum Online- oder gar Präsenzangebot. Das mühsame Einsammeln und Kontrollieren im Vorfeld entfällt. Die Rechnung wird den Kunden automatisiert zur Verfügung gestellt; wir selbst laden uns die gesammelten Rechnungen zum Monatsende für unsere Buchhaltung herunter.
  • Gute technische Ausstattung lohnt sich. Gold wert war meine Investition in eine schnellere Internetverbindung, einen zweiten (großen) Bildschirm und ein Ringlicht für eine gute Ausleuchtung des digitalen Arbeitsplatzes bei fehlendem natürlichen Licht.
  • Gute Vorbereitung ist das A und O für erfolgreiche Online-Beratung. Die Materialien müssen digital vorliegen und sich über einen Bildschirm einsetzen lassen. Unterschriften und die ärztliche Notwendigkeitsbescheinigung sollten im Vorfeld eingeholt werden. Tools für interaktives Arbeiten wie Padlet, digitales Whiteboard und ähnliches müssen sorgfältig vorbereitet werden. Digitalisierung analoger Inhalte erst während der Beratung bzw. im laufenden Kurs ist ein enormer Zeiträuber und sollte unbedingt vermieden werden.
  • Video ist Pflicht im Online-Geschäft. Reine Telefonberatungen sind zwar prinzipiell besser als gar keine Beratung. Der zusätzliche Informationskanal durch das übertragene Bild macht jedoch einen enormen Unterschied in der Beratungsqualität. Mimik und Gestik des Gegenübers helfen beim Einschätzen der Situation, beim Aufbau von Vertrauen und auch bei der Vermittlung von Inhalten. Nach über einem Jahr Pandemie-bedingter Einschränkungen gibt es in den allermeisten Haushalten die Möglichkeit zur Videoübertragung – wir sollten sie nicht ungenutzt lassen!
  • Online-Marketing ist der Turbo in der digitalen Welt. Auch wenn es für viele von uns eine neue Welt ist, lohnt es, sich hier schnell einzuarbeiten. Nur, wer von Suchmaschinen gesehen wird, wird langfristig von allen Vorteilen der Digitalisierung profitieren können. Facebook, Instagram und LinkedIn eröffnen uns Vermarktungsmöglichkeiten, die wir nicht ungenutzt lassen sollten.

Mein persönliches Fazit

Präsenzangebote bleiben, was Beratungsqualität angeht, der Goldstandard. Online-Angebote sind eine wertvolle Ergänzung, schließen Lücken und werden sicherlich auch langfristig einen Teil der Präsenzangebote ersetzen. Dennoch werden sie Präsenzangebote nicht komplett verdrängen können.

Merke

Mein wichtigster Tipp: Sich trauen und einfach machen! Es ist gar nicht so schwer!

Vera Hille
Die Diplom-Oecotrophologin Vera Hille arbeitet als zertifizierte Ernährungsberaterin (VDOe) mit zusätzlichem Bachelor in Erziehungswissenschaften in ihrer eigenen Ernährungsberatungspraxis „PEAK FORM“. Mit Zusatzausbildungen in Allergologie, Fettstoffwechseltherapie, Hypnotherapie und als Trainerin für Progressive Muskelentspannung betreut sie ein breites Spektrum an Klienten. Gemeinsam mit der Diplom-Pädagogin Patricia Schark bietet Vera Hille den deutschlandweit ersten ZPP-zertifizierten Online-Ernährungskurs zur Beikosteinführung an (https://peakform.de/beikost). Ihr ebenfalls ZPP-zertifizierter Online-Kurs zur Progressiven Muskelrelaxation (https://www.peakform.de/pmr) komplettiert ihr Angebot an Web-Apps.

Interessenkonflikt: Die Autorin erklärt, dass keine Interessenkonflikte vorliegen.